Auf der Titelseite:
Stehende Zeit - In Wilflingen endete jetzt eine Art Ernst- Jünger-Moratorium: Die Sachen des Schriftstellers sind in das Haus zurückgekehrt, das er 47 Jahre lang bewohnte. Und in dem er, 1993 war es, seinen Gästen Kohl und Mitterrand das "titanische Zeitalter" vorhersagte: "Die Technik wird sich nicht kontrollieren lassen. Es wird ziemlich ungemütlich werden." Doch die Politik lässt sich nichts vormachen: Hier werden Atome außer Kraft gesetzt, dort ruhen die Bagger. Von Fukushima über Berlin bis Stuttgart und Wilflingen reichen daher die Seiten 2, 4, 7, 10, 13 und 29.
Text: F.A.Z., 30.03.2011, Nr. 75 / Seite 1
Wohnhaus letzter Hand
Dieses Domizil ist mehr als eine Gedenkstätte: Es ist ein Gesamtkunstwerk. Im neu eröffneten Ernst-Jünger-Haus wird die literarische Bedeutung des Autors erst wirklich begreiflich.
Im Anschluss macht Thomas Schmidt, der als Leiter der Arbeitsstelle für literarische Gedenkstätten und Museen in Baden-Württemberg für die neue Konzeption zuständig ist, die literaturhistorische Dimension dieses Tages deutlich. Denn die Wiedereröffnung der intimen Gedenkstätte als Schriftstellermuseum ist natürlich auch ein weiterer Akt der Kanonisierung des Autors, vergleichbar mit der Aufnahme Jüngers in die Pleiade. Dann geht es vom Schloss hinüber in die Oberförsterei. Auf den ersten Blick wirkt alles unverändert. Die elektrische Anlage wurde zwar erneuert, aber die Stromkabel sind wie in den dreißiger Jahren auf Putz verlegt. Alle Wände und Decken sind frisch gestrichen, aber der Farbton suggeriert Patina. Die schweren Zimmertüren aus dreihundert Jahre altem Eichenholz sind restauriert, aber unterhalb der Klinken sind die Türblätter abgegriffen und die Farbe fehlt. So ist es im ganzen Haus: Alles ist neu, aber man sieht es nicht. Denn die Gebrauchsspuren blieben erhalten, sie wurden konserviert.
Der Hausherr ist zurückgekehrt. Die Wilflinger Oberförsterei, in der Ernst Jünger fast ein halbes Jahrhundert lang lebte, von 1951 bis zu seinem Tod im Jahr 1998, ist wieder bewohnt. Fast eineinhalb Jahre lang stand das 1727 erbaute Haus leer, weil umfangreiche Sanierungsarbeiten nötig waren, um den drohenden Zerfall abzuwenden. Vom morschen Dachstuhl über die marode elektrische Anlage bis zu der von Frost und Wasserschäden angenagten Freitreppe musste an allen Ecken und Enden ausgebessert und erneuert werden. Deshalb wurde fast der gesamte Jüngersche Haushalt vor sechzehn Monaten in Kisten verpackt und ins Deutsche Literaturarchiv nach Marbach verbracht, wo alles fein säuberlich erfasst und katalogisiert wurde. Was gerade noch in Regalen und Schubladen gelegen hatte, als könnte der Dichter jeden Augenblick von einem seiner täglichen Spaziergänge durch Wilflingen und die Umgebung zurückkehren, war plötzlich zu Archivmaterial geworden. Es schien, als hätten die Dinge, als sie das Haus verließen, ihr Wesen verändert. Aus den vielen tausend Gegenständen und Kleinigkeiten des täglichen Lebens war erst in jenem Moment ein Nachlass geworden.
Jetzt, pünktlich zum 116. Geburtstag des Dichters, sind die Dinge zurückgekehrt: Das Ernst-Jünger-Haus in Wilflingen ist wiedereröffnet worden. Den Festakt richtete der Nachbar aus: Baron Franz Schenk von Stauffenberg, dessen Familie seit 1469 hier ihren Sitz hat und dessen Vater dem Schriftsteller die zum Anwesen gehörende Oberförsterei als Wohnstatt angeboten hatte.
Jetzt, pünktlich zum 116. Geburtstag des Dichters, sind die Dinge zurückgekehrt: Das Ernst-Jünger-Haus in Wilflingen ist wiedereröffnet worden. Den Festakt richtete der Nachbar aus: Baron Franz Schenk von Stauffenberg, dessen Familie seit 1469 hier ihren Sitz hat und dessen Vater dem Schriftsteller die zum Anwesen gehörende Oberförsterei als Wohnstatt angeboten hatte.
Jetzt hat der Baron ins Schloss geladen. In der entlegensten schwäbischen Provinz, in einem Dorf mit vierhundert Einwohnern, wird die Rückkehr eines Dichters von Weltrang gefeiert. Der Baron hält eine kurze Ansprache, Schüler des Kreisgymnasiums greifen zu ihren Instrumenten, der Landrat spricht. Der Schriftsteller Arnold Stadler ist gekommen, und Michael Klett, Jüngers langjähriger Verleger. Auch Jüngers letzter Sekretär kommt zu Wort, die Geldgeber, die die 400 000 Euro teure Sanierung finanziert haben, werden ausführlich gewürdigt. Ohne die Denkmalstiftung Baden-Württemberg, die allein 250 000 Euro bereitstellte, wäre die Rettung des Hauses wohl nicht möglich gewesen.
Dann spricht der Festredner des Tages, unprätentiös, eindringlich. Erwin Teufel beschreibt seine Begegnungen mit dem Schriftsteller, erinnert an dessen hundertsten Geburtstag - "bei Eis und Schnee" - und an die Trauerfeier in der Wilflinger Kirche keine drei Jahre später. Mehrfach erwähnt Baden-Württembergs ehemaliger Ministerpräsident Jüngers späten Übertritt zum Katholizismus, als wollte er die Trias "Krieger, Waldgänger, Anarch", die Heinz Ludwig Arnold geprägt hat, noch um den Zusatz "Katholik" erweitert sehen.
Im Anschluss macht Thomas Schmidt, der als Leiter der Arbeitsstelle für literarische Gedenkstätten und Museen in Baden-Württemberg für die neue Konzeption zuständig ist, die literaturhistorische Dimension dieses Tages deutlich. Denn die Wiedereröffnung der intimen Gedenkstätte als Schriftstellermuseum ist natürlich auch ein weiterer Akt der Kanonisierung des Autors, vergleichbar mit der Aufnahme Jüngers in die Pleiade. Dann geht es vom Schloss hinüber in die Oberförsterei. Auf den ersten Blick wirkt alles unverändert. Die elektrische Anlage wurde zwar erneuert, aber die Stromkabel sind wie in den dreißiger Jahren auf Putz verlegt. Alle Wände und Decken sind frisch gestrichen, aber der Farbton suggeriert Patina. Die schweren Zimmertüren aus dreihundert Jahre altem Eichenholz sind restauriert, aber unterhalb der Klinken sind die Türblätter abgegriffen und die Farbe fehlt. So ist es im ganzen Haus: Alles ist neu, aber man sieht es nicht. Denn die Gebrauchsspuren blieben erhalten, sie wurden konserviert.
Zehn Jahre lang hatte in diesem Haus die Zeit stillgestanden. Nichts war nach Jüngers Tod verändert worden, jedes Detail dokumentierte die letzten Lebensumstände des Dichters: von der Bibliothek, in der er unzählige Gäste, darunter Helmut Kohl und François Mitterand oder Heiner Müller empfangen hatte, über den Salon, in dem Tee getrunken und ferngesehen wurde, bis hin zum Schlaf- und Badezimmer. Im Salon hatte der Hausherr seine Orden scheinbar achtlos zwischen Muscheln und Versteinerungen in einer Vitrine deponiert, im Bad lagen noch die Rasierklingen neben dem Eau de Toilette, an der Tür zum Ankleideraum klebten dutzendweise aus Hotels aus aller Welt mitgebrachte Schilder: "Bitte nicht stören".
Ein Jahrzehnt währte dieser seltsame Ruhezustand, der Dornröschenschlaf der Behausung eines Dichters, der gerne in Äonen dachte. Das Jünger-Haus ist einzigartig unter den literarischen Gedenkstätten Deutschlands. Denn nirgendwo sonst sind die Lebensumstände eines Schriftstellers derart präzise dokumentiert und eingefroren. Nirgendwo sonst ist der Versuch gemacht worden, ein Wohnhaus gleichsam über Nacht zur Gedenkstätte umzuwidmen, nicht durch Neugestaltung, sondern einzig und allein durch einen Willensakt, durch die Entscheidung der Witwe. Unmittelbar nach dem Tod ihres Mannes muss Lieselotte Jünger beschlossen haben, ihr gemeinsames Domizil als Teil des Gesamtwerks ihres Mannes zu verstehen: Es sollte gleichsam als Wohnhaus letzter Hand erhalten bleiben. Der Zustimmung des ehemaligen Hausherrn durfte sie sich sicher sein, hatte er doch bereits 1940 entschieden: "Wir bilden uns die Welt, und was wir erleben, ist nicht dem Zufall untertan. Die Dinge werden durch unseren Zustand angezogen und ausgewählt: die Welt ist so, wie wir beschaffen sind."
Demnach wäre Ernst Jüngers Haus, dieser in der Arbeit eines halben Jahrhunderts entstandene Mikrokosmos, halb Bibliothek, halb Naturalienkabinett, die Schöpfung seines Bewohners und so beschaffen, wie er selbst beschaffen war. Ein Haus, gebildet nach dem Abbild seines Herrn, ein "Kleid", wie es in den "Kaukasischen Aufzeichnungen" heißt, mit dem wir uns umgeben, als wäre es ein "erweitertes Wesen", aber auch ein Dokument, in dem wir lesen.
Jetzt ist dieses Dokument gleichsam neu ediert worden: Aus der intimen Gedenkstätte ist ein Museum geworden, das die Intimität zurückdrängt, aber nicht ausspart. Der Besucher muss sich nicht mehr wie ein Voyeur fühlen, der jeden Moment vom Hausherrn in dessen Privatgemächern ertappt werden kann. Ernst Jüngers Küche, in der noch vor wenigen Tagen ein Gewürzregal mit Kerbel und Madrascurry hing, ist zum Kassenraum und Museumsshop umgebaut: In den alten Küchenschränken liegen jetzt Postkarten und Jüngers Werke zum Kauf bereit.
Auch im Badezimmer ist die museumswissenschaftlich begleitete Inszenierung von Authentizität ironisch gebrochen. Als Thomas Schmidt und seine Mitarbeiter vor zwei Wochen zum ersten Mal Jüngers Medizinschrank öffneten, fand sich darin neben Medikamenten auch ein ganz besonderes Präparat. Die kleine Schachtel, ein unverkäufliches Warenmuster für Ärzte, steht jetzt in einer Glasvitrine im Ankleidezimmer. Der Name des Mittelchens gegen Altersbeschwerden: "Immer jünger". HUBERT SPIEGEL
http://www.juenger-haus.de
http://www.juenger-haus.de
Text: F.A.Z., 30.03.2011, Nr. 75 / Seite 29
"Immer jünger" - Jünger for ever!
ReplyDeleteHappy reading: Hats off to Hubert Spiegel.