November 15, 2010

Kulturstaatsminister Bernd Neumann anlässlich der Eröffnung „Ernst Jünger – Arbeiter am Abgrund“

In seiner Rede im  Deutschen Literaturarchiv Marbach ging Staatsminister Bernd Neumann auf das Leben und Schaffen von Ernst Jünger ein. Ebenso wies er auf die besondere Bedeutung von Archiven hin und sprach das Thema Digitalisierung schriftlichen Kulturguts an.


Ernst Jünger notebook

- Es gilt das gesprochene Wort. -
Anrede,

gerne übermittele ich die Grüße der Bundesregierung zur Eröffnung der großen Ernst-Jünger-Ausstellung hier im "Pantheon der deutschen Literatur". Ein nicht nur langes, sondern auch besonders reiches Leben stellt sich dar: Ernst Jünger, der zeitlebens in erdgeschichtlichen und kosmischen Dimensionen dachte, sah es als ein Zeichen des Himmels und als ein Menetekel zugleich an, dass er zweimal – 1910 und 1986 – den berühmten Halleyschen Kometen an der Erde vorüberziehen sah. Durch die Aufnahme in die berühmte französische "Bibliotèque de la Pleiade" wurde er selbst gleichsam zu den Sternen erhoben.


Die Ehre einer Werkausgabe in diesem Kanon der Weltliteratur wurde als deutschen Autoren des 20. Jahrhunderts vor ihm nur Rilke, Kafka und Brecht zuteil. Dass heute in Marbach eine Ausstellung über diesen Jahrhundertautor eröffnet werden kann, die fast ganz ohne Leihgaben auskommt, verdankt sich dem Umstand, dass Jünger in seinem 99. Lebensjahr einen Vertrag mit dem Deutschen Literaturarchiv über seinen Vorlass schloss. Von 1994 bis1997 kam dieser dann ins Deutsche Literaturarchiv und – wie in vielen anderen Fällen – beteiligte sich der Bund auch an diesem Erwerb mit einem hohen Anteil.

Das Deutsche Literaturarchiv ist eine heraus ragende Institution im dichten und flächendeckenden Netz deutscher Sammlungen und Archive. Darum greifen Land und Bund immer wieder tief in die Tasche, um die einmaligen Bestände zu erweitern. Daneben – und dies erfüllt mich mit besonderer Hochachtung – bringen zahlreiche Privatspender hier im Herzen Württembergs in wirklich einmaliger Weise ihre Verbundenheit mit diesem Schatzhaus zum Ausdruck. Und sie leisten damit der Kultur in Deutschland einen großen Dienst: Immer mehr Wege zur neueren deutschen Literatur führen nach Marbach. Noch gar nicht ganz abgeschlossen ist der jüngste Erwerbungscoup. Mit den herausragenden Archiven des Suhrkamp- und des Insel-Verlages baut das Deutsche Literaturarchiv seinen nationalen und internationalen Rang weiter aus.

Lieber Herr Prof. Erhardt, lieber Herr Prof. Raulff, ich bin sehr froh, dass wir nach nicht ganz einfachen Gesprächen eine Lösung gefunden haben, dass sich der Bund mit 1 Mio. Euro am Erwerb des Archiv des für die deutsche Literaturgeschichte des 20. Jahrhunderts so wichtigen Inselverlages beteiligt hat. Ihnen, verehrter Herr Prof. Leibinger, möchte ich noch einmal, auch im Namen von Frau Bundeskanzlerin Angela Merkel, sehr herzlich danken, dass Sie die Suche nach einer Lösung zu Ihrem ganz persönlichen Anliegen gemacht haben. Ich kann und mag nicht verhehlen, dass es erst Ihre Überzeugungskraft war, die den entscheidenden Ausschlag gab!

Meine Damen und Herren, eine Gesellschaft braucht Archive – sie sind das Gedächtnis einer Nation. Würden wir sie vernachlässigen, dann verfiele unsere Gesellschaft in Amnesie. Wir geben Jahr für Jahr erhebliche Steuermittel dafür aus, um historische Zeugnisse für die nächste Generation zu bewahren. Wenn ein junger Mensch, der – sagen wir – am heutigen Tage geboren wird, später einmal verstehen möchte, warum es erst zwei deutsche Staaten, einen kalten Krieg, schließlich die Wiedervereinigung und ein vereintes Europa gab, dann bewahren Archive darauf eine Antwort. Literatur ist natürlich nicht in erster Linie eine historische Quelle, aber kaum etwas macht den Geist einer Zeit begreifbarer als sie.

Hier in Marbach befinden sich Originalzeugnisse und Dokumente, die auch künftigen Generationen einen Zugang zur Literatur unserer Kulturnation ermöglichen. Sie werden für die Forschung erhalten, in den Kontext mit anderen Quellen gestellt und mittlerweile auch im großen Stil digitalisiert. Das Deutsche Literaturarchiv Marbach ist eine der Institutionen, die bereits Digitalisate für die entstehende Deutsche Digitale Bibliothek zur Verfügung stellt. Unser heute Geborener könnte in 20 Jahren, selbst wenn er kein Germanist oder Historiker wäre, virtuell in den Originalhandschriften Alfred Döblins oder Fontanes oder eben Ernst Jüngers blättern – und damit in die Aura des Originals eintreten, anders als dies durch eine Druckausgabe möglich ist.


Um auch die Erhaltung der wertvollen und unwiederbringlichen Originale noch besser zu gewährleisten und Restaurierungs- und Digitalisierungsmaßnahmen bundesweit abzustimmen, richten wir darüber hinaus derzeit gemeinsam mit den Ländern und mit der "Allianz zur Erhaltung schriftlichen Kulturguts", zu der sich alle großen Bibliotheken und Archive in Deutschland zusammengeschlossen haben, in Berlin eine Koordinierungsstelle ein. Gerade vor wenigen Tagen haben wir erste Modellprojekte fördern können. Ein wichtiger Schritt auf dem Weg zu Erhaltung unseres wertvollen schriftlichen Kulturguts!

Meine Damen und Herren, Ernst Jünger wurde zuteil, was vielen seiner Generation, die als junge Männer bereits im 1. Weltkrieg fielen, nicht vergönnt war: Sein Leben in einem großen Bogen zu runden und abzuschließen. Eine solch lange Lebenszeit als bewusster, reflektierender und schöpferischer Mensch bedeutet aber auch, Widersprüche auszuhalten und anzunehmen.
Bei aller kritischen Distanz zu seinem Werk, die in Deutschland lange vorherrschte, erhielt Ernst Jünger jedoch zahlreiche Ehrungen wie das Große Bundesverdienstkreuz, den Literaturpreis der Stadt Bremen oder den Goethepreis der Stadt Frankfurt. Gegensätze, Widersprüche, Kontraste. Kaum ein anderer Autor hat sich so sehr zurückgezogen wie Jünger. "Die Einsamkeit", schreibt der über 90jährige, "zählt nicht zu den Leiden des Autors, sondern zu seinem Kapital". Dennoch sind zu keinem anderen Literaten so oft Staatsmänner und Männer des Geistes, ja man muss schon sagen: gepilgert und haben ihre Reverenz erwiesen: Bundeskanzler Helmut Kohl, die Sozialisten François Mitterand und Felipe Gonzàles, die Bundespräsidenten Heuss und Herzog und immer wieder die Großen der Literatur wie Ionesco, Moràvia, Borges oder Dürrenmatt.
1995 wurde Ernst Jünger in einem Essay zum 100. Geburtstag als "Chronist des Übergangs" bezeichnet. Gerade seine Kriegstagebücher "In Stahlgewittern" und "Strahlungen" sind bis heute Gegenstand kontroverser Diskussionen und umstritten wie wenige Werke des 20. Jahrhunderts. Jünger war Beobachter und Chronist gigantischer Katastrophen, Umbrüche und Vernichtungen – und er war auch immer wieder unmittelbar in sie involviert. Er hat sie mit glasklarer Schärfe wahrgenommen und mit unerreichter sprachlicher Präzision beschrieben.Dies ist ihm oft als Anzeichen menschenverachtender Kälte ausgelegt worden. Bis ins höchste Alter war jedoch seine nicht nachlassende Neugier auf das Zeitalter und seine Erscheinungen immer auch ein Indiz für eine fortgesetzte Weltzugewandtheit, die am Ende im Sinne Goethes alles Vergängliche nur als ein Gleichnis sah und zu sehen vermochte.

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